Kagelati

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Der ganz alltägliche Wahnsinn

Das Meer flimmert in leuchtenden Türkistönen, die in der Ferne mit dem endlosen Blau des Horizonts verschmelzen. Über mir wiegt eine leichte Brise die Kokospalmen, die Sonne lullt mich in wohlige Schläfrigkeit. Ein aufdringliches Piepen zerreißt die Stille. Der Typ auf dem FC Bayern Badelaken fingert hektisch auf seinem Tamagotschi herum. Die Dinger sollte man nur gegen Führerschein ausgeben. Langsam dringt die bittere Realität in mein Unterbewusstsein: Das Telefon klingelt - aus der Traum von der Südseeinsel. "Entschuldigung, da hab ich mich wohl verwählt."

Der Regen hämmert aufs Dach, Analyse des Wetterberichtes: "Es ist etwas zu kühl für die Jahreszeit". Hoch Dirk heizt den Russen ein, wir können uns unter Tief Violetta vergnügen. Der Nachbar hat Urlaub, schön für die Baumärkte, er lässt gerade seine Kreissäge warmlaufen. Kann ich auch gleich aufstehen, immerhin verspricht mein Horoskop, eine freudige Überraschung stehe heute bevor.

Der Kater mault, will kein Kitekat, er mag lieber das Tix aus dem Aldi, hat ja jetzt auch eine verbesserte Rezeptur. Das Baby mault, wieder mal geschickt alle Spielsachen außer Reichweite geschoben. “Ich armer Wicht, keiner kümmert sich um mich!“ Und das schon seit vier Minuten! Die Zimmerpflanzen maulen nicht, sie werfen nur braune Blätter auf den Boden, das nennt sich dann nonverbale Kommunikation. Also auf geht’s, heute ist Kitekat-Tag, der Kater greift zur Selbstverpflegung, die Mäuse werden es mir danken. Der Spielzeugberg wird wieder ums Baby aufgehäuft, die Blumen gründlich gewässert.

Der Wettermann verspricht ergiebige Regenfälle, fast so ergiebig wie das neue Sunil, positives Denken ist angesagt. Kommentar der Abendzeitung: 30 Grad in Lappland! Wäre doch mal ein originelles Thema für ‘Wetten dass’: Mit verbundenen Augen eine von 357 verschiedenen Regenvarianten erkennen.

Im Kühlschrank sind die Eier überfällig, also schnell noch einen Kuchen backen. 20 Prozent der in Deutschland eingekauften Lebensmittel vergammeln in Kühlschränken, das macht eine Summe von - hab ich vergessen. Aber gut, dass die Statistiker mir endlich mal helfen, den Sparhebel anzusetzen. Für Autos gibt es doch längst hochintelligente Bordcomputer, wieso nicht auch für Kühlschränke? Alles wird beim Einlagern eingescannt und per Mikrochip verwaltet. Eine freundliche Elektronenstimme teilt mir dann mit „Die Lätta verschimmelt, du Schuft!“, „Heute schon geschweppt?“ oder „Beim nächsten Gongschlag befinden sich 26 Salmonellen im dritten Ei.“ Das Luxusmodell denkt gleich mit, beim dritten Griff zum Mayonnaiseglas tadelt es „Mann wirst Du dick Mann!“ Da steckt mit Sicherheit Geld drin, vielleicht sollte ich mal den benachbarten Patentanwalt zum Kaffee einladen?

Das bisschen Haushalt erledige ich mit links, nein falsch mit rechts, auf dem linken Arm sitzt ja das Baby. Ersetzt jedes Hanteltraining. Die gröbsten Verunreinigungen beseitigen, die verschiedenen Müllsorten rausschleppen. Wo ist der Schlüsselbund, so groß ist die Wohnung doch gar nicht. Angeblich kann sich Materie selbst bewegen. Wenn sich alle Atome einmal in zig Millionen Jahren zufällig in die gleiche Richtung bewegen, kann das Kreidestückchen auf dem Pult hochhüpfen. Habe ich im Chemieunterricht gelernt. Der Schlüssel hängt am Schlüsselbrett, da ist er doch sonst nie. Vielleicht waren sich ja doch gerade mal alle Atome einig.

Immerhin habe ich einen Merkzettel gefunden. Thailändisches Konsulat anrufen. Eine blecherne Stimme teilt schadenfroh mit: „Hahaha - wasted“. Im Radio grölt der neue In-Song „Gibt’s doch gar nich“, hast Du eine Ahnung, was es alles gibt! Vor der Tür stehen die Zeugen Jehovas. Nein danke, ich will nicht noch mal erwachen. Der Tag hat eh zu früh begonnen. Der Kuchen ist inzwischen verbrannt. Hätte ich die Eier auch gleich wegwerfen können. Aber sie sind nicht im Kühlschrank vergammelt, Verfälschung der Statistik.

Auf zum Rathaus, das Einwohnermeldeamt zeichnet sich wie üblich durch zugige Gänge, zu wenig Sitzplätze und eine bedauerlich niedrige Wartenummer auf der Anzeigetafel aus. Aber da ist ja eine große Hinweistafel, Mütter mit Kleinkindern haben Vorrang. Ein grünes Lämpchen leuchtet. Die freundliche Dame, die gerade in die geheiligte Stube treten dürfte, bietet mir auch gleich den Vortritt an. Hat mein Horoskop doch recht gehabt, als es verkündete, diese Woche steht mir eine freudige Überraschung bevor.

Eintritt in die deutsche Amtsstube. Der Amtsschimmel wiehert. „Ihre Nummer bitte“. Habe ich nicht, ich berufe mich auf die Hinweistafel. Ohne Nummer kann nicht gearbeitet werden. Austritt aus der deutschen Amtsstube. Die freundliche Dame lässt sich ihre gute Tat nicht verderben, sie drückt mir ihre Nummer in die Hand. Erneuter Eintritt in die deutsche Amtstube. Der Amtsschimmel wiehert befriedigt.

Ich brauche einen Kinderausweis. Für den Urlaub in Griechenland. Brauche ich dafür ein Lichtbild? „Das weiß doch ich nicht, was Sie in anderen Ländern brauchen.“ Ich will doch nur den Ausweis, was muss ich hier vorlegen? „Da müssen Sie im Konsulat anrufen. Flatsch, der Schnuller fliegt auf die Theke. Ein Sabberfaden läuft hinterher. Ein finsteres Hochziehen der Augenbrauen. Verschmutzung von Staatseigentum, auch das noch. Am Nebenschalter diskutiert die freundliche Dame, warum sie keine Nummer hat. Noch mal ganz von vorn. Ich möchte einen Kinderausweis beantragen. „Da müssen Sie ein Formular ausfüllen“. Was ist denn sinnvoller, ein Kinderausweis oder Eintragung in den Reisepass der Eltern? „Das ist ein anderes Formular“. „Wabwab“. Meine Tochter hat auch etwas dazu zu sagen. Welche Unterlagen benötige ich denn jetzt noch? „Das steht auf dem Formular“. Am Nebenschalter wird immer noch diskutiert. Ich sammle Schnuller und Formular ein und räume das Feld für den nächsten Steuerzahler.

Jetzt noch schnell einkaufen. Im Slalom zur kürzeren Schlange. „Diese Kasse macht zu“. Die Schlange an der anderen Kasse ist inzwischen um weitere sechs gut gefüllte Einkaufswägen angewachsen. Das Baby schreit. Eine stark angegraute ehemalige Mutter beugt sich mit Kennermiene über den Kinderwagen. „Das Kind hat Hunger“. „Wabwab“. Der Rentner vor mir sortiert seine Cents, einer fehlt, auch in den Taschen seiner braunen Cordsamt-Hosen ist nichts mehr zu holen.

Auf dem Bürgersteig hat ein weitblickender Lieferwagenfahrer gerade genug Platz für den Kinderwagen gelassen. Ein dynamischer Passant aus der Gegenrichtung muss sich auch noch vorbeiquetschen. „Junge Frau, mal warten können Sie wohl nicht?“ Da haben wir wenigstens was gemeinsam.

Endlich wieder zuhause. Das Baby mault. „Ich will nicht einfach abgelegt werden“. Der Kater mault. „Meine Schüssel ist leer. Wo warst Du so lange?“ Der Hunger hat auch das Kitekat reingetrieben. Wo ist der Dosenöffner? Mir ist auch schon ganz flau vor Hunger. Jetzt wäre der Kuchen gerade recht gewesen. Im Radio dudelt es „Things can only get better“, David Hasselhoff muss es ja wissen.

Mittagsruhe! Baby schläft, Kater ist auf Mäusejagd. Was mach ich nur als erstes? Dr. Hildruns Kummerkasten-Rubrik lesen? Das Puzzle weiterlegen (die letzten zwei Stücke sind eh längst im Staubsauger oder sonst wo verschwunden)? Eine Runde Minesweeper spielen? Das Telefon klingelt. Baby wacht auf. „Hallo, hier Rita. Wie geht’s denn so?“ Baby kräht. Bis vor einer Minute ging’s prima. „Ach, Du bist mit der Kleinen beschäftigt. Na, ich meld mich mal wieder, wenn’s besser passt. Tschau, tschau.“

Das Radio grölt im Dreivierteltakt „Und warum“, alle dreiviertel Stunde der gleiche Song. Da draußen pulsiert das Leben, der Dax ist auf Dreijahreshoch und Schumi schreibt die WM ab (von wem?).

Stürzen wir uns doch auch in den Trubel, Einkaufsbummel in der Stadt. Die Wirtschaft braucht neue Impulse. Knapp hinter dem nächsten Bahnhof bleibt die S-Bahn stehen. Es riecht nach nassem Hund, muss jemand in der Einkaufstasche mitschmuggeln. Gegenüber sitzt ein gelichteter Mittfünfziger, den Umweltbeutel wie eine Kindergartentasche vor die Brust gehängt. Blauweißer Aufdruck "Gutes aus Bayern" - jedem sein Coming out. Nach 10 Minuten kommt auf dem Bahnhof die Durchsage: "Zur Zeit verkehren alle S-Bahnen mit 10-minütiger Verspätung. Wir bitten um Verständnis." Prima, die 10 Minuten sind um, dann muss es ja jetzt weiter gehen. Nach weiteren 5 Minuten ruckeln wir 150 Meter weiter.

Irgendwann landen wir dann doch in der Innenstadt. Ein buntes Spektakel wogt durch die Fußgängerzone, rote Regenschirme, grüne Regenschirme, blauweiße Regenschirme (die Touristen sind in der Stadt). Der Sommer-Schluss-Verkauf läuft auf Sparflamme, wer braucht hier schon ein Sonnentop oder Kork-Sandaletten? Nur bei den Friesennerzen bildet sich eine Schlange. Überall preisen bunte Tafeln alles an, was Sie noch nie gebraucht haben, jetzt besonders preisgünstig in der familienfreundlichen Vorratspackung.

Gähnende Leere im Geldbeutel, zum Glück ist die Stadt flächendeckend mit Geldautomaten und Bankfilialen überzogen. Nach erfolgreicher Identifikationsprozedur und ausgiebiger Betrachtung einer Sanduhr auf dem Display erfahre ich, dass der Automat aufgrund einer vorübergehenden Störung im Computersystem nicht daran denkt, mein Geld auszuspucken. Dann eben zum Schalter, das hat wenigstens noch einen Hauch der guten alten Tante Emma Laden Atmosphäre.

Die gepiercte Schatzhüterin im Glaskasten unterbricht missmutig ihre Feierabend-Vorbereitungen. Olivgrüne Fingernägel gleiten anmutig durch braune Geldbündel. Einen Scheck zum Abheben will sie von mir. Wieso, alle Welt redet doch von Plastik-Money. "Tut mir leid, unser Computer ... Da muss ich in Ihrer Filiale rückfragen." Die Telefonleitungen sind belegt (werden ja auch vom Computer verwaltet). "Bedaure, vielleicht in einer Stunde am Automaten?!" Schöne neue digitale Welt.

Ist vielleicht auch besser so, die letzte Bluse hängt noch immer samt Preisschild im Schrank, und aus dem neuen leuchtend bunt illustrierten Kochbuch habe ich noch kein Rezept ausprobiert. "Wabwab". Baby meldet Hunger an, wir schieben uns mühsam durch Aktentaschenträger und japanische Hobby-Fotografen zur S-Bahn. Der Aufzug ist defekt. Wie schnell eine Rolltreppe abwärts fährt, weiß erst, wer versucht hat, einen Kinderwagen rückwärts darauf zu ziehen. In der S-Bahn riecht es nach nassem Hund. Vielleicht ist es ja doch ein feuchter Kamelhaarmantel.

Wieder daheim. Der Göttergatte sitzt vor dem Computerspiel. Schon wieder 20 Cent beim virtuellen Schafkopfen verloren. "Du glaubst gar nicht, was ich für einen Tag hatte! Was gibt's denn zu essen? Mach doch mal wieder Pfannkuchen!" Keine Eier mehr im Kühlschrank, aber vielleicht inspiriert mich ja das noch unbenutzte Kochbuch.

Der Tag ist gelaufen. Baby lächelt engelhaft im Bett. Entspannung total, im Fernsehen kommt doch noch ein Film mit Paul Newman. Wieso reitet denn der da in Cowboystiefeln über den Bildschirm? Ach so, irgendein Hollywood-Veteran ist mal wieder verstorben, Programmänderung in Memoriam. Der Göttergatte zappt sich durch die Programme, irgendwo spukt sogar noch Derrik durchs Kabel, Tief Violetta wird von Wilma abgelöst und dynamische Jung-Moderatoren talken betroffen um die Wette. Da horche ich doch lieber an meiner Matratze, vielleicht lande ich ja wieder auf meiner Südseeinsel.

 

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